Dienstag, 30. Oktober 2018
Noch kein Name - Kapitel 1
Der Weg zur Schule, er war jeden Tag identisch. Der Bus fuhr dieselbe Anzahl an Minuten wie jeden Tag, hielt an den gleichen Kreuzungen wie jeden Tag, hatte dieselben Fahrgäste wie jeden Tag. Aber was sollte ich auch anderes erwarten? Der Schulweg war eine Routine, ein reiner Alltag. Was sollte sich dabei schon großartig verändern? Ich konnte wohl kaum erwarten, dass plötzlich ein Meteor genau vor uns auf die Fahrbahn prallte und Außerirdische daraufhin die Kontrolle über den Bus ergriffen. Nicht alle Veränderungen im Leben geschahen aus dem Nichts heraus. Nicht für alle Menschen sollte sich das Leben völlig auf den Kopf stellen. Solche Veränderungen wurden nicht jedem zuteil, eher den wenigsten. Ob man darum wohl beneidet wurde? Ich wusste es nicht und wollte eigentlich auch gar nicht über solche Dinge nachdenken. Aber so etwas ließ sich nicht immer vermeiden, schon gar nicht auf solchen Busfahrten. Deshalb hasste ich den Weg zur Schule. Ich saß zu lange in einem Fahrzeug und konnte nur aus dem Fenster sehen, die vorbeiziehende Landschaft betrachten. Aber die wollte ich nicht sehen. Es bereitete mir zu Teilen sogar Angst, wie wahnsinnig schnell der Busfahrer manche Kurven nahm. Es erzeugte Übelkeitsgefühle in meinem Magen. So konnte ich Tag für Tag nur den Bezug des Sitzes vor mir anstarren und die Karos der Nähte zählen. Aber auf Dauer bereitete mir das Kopfschmerzen. Sicher waren da neben mir noch andere Jugendliche im Bus. Einige von ihnen schienen ganz nett zu sein, aber ihre Gegenwart war zu anstrengend für mich. Zu viele neue Stimmen, Gesichter und Eindrücke, die da auf mich nieder prasselten und mich zu ersticken drohten, wenn ich nicht früh genug Abstand nahm. Das war auch der Grund, warum die Schule mich teilweise überforderte. Seit geraumer Zeit war ich leicht aus der Fassung zu bringen. Dinge, die für mich früher da normalste und alltäglichste von der Welt waren, stellten für mich nun jeden Tag aufs neue eine Herausforderung dar. Meine Wünsche mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren wurden unterdrückt. Man traute mir nicht zu aktiv am Straßenverkehr teil zu nehmen. Es wäre nur zu meinem Besten, waren ihre Worte. Aber es fühlte sich so an, als würden sie mich lieber leiden lassen als alles andere.

Plötzlich hörte ich die Bremsen quietschen. Der Bus führte eine Notbremsung durch. Ich erschrak und streckte meine Arme aus, drückte sie gegen den Sitz vor mir. Gleich würde ein Aufprall kommen.. ich wollte ihn abfangen! Doch es geschah nichts. Ich hörte mich selbst laut atmen und spürte wie mir einige Seitenblicke zuteil wurden. Ob sie um mich besorgt waren oder mich für einen Freak hielten? Keine Ahnung. Ich sah nicht in ihre Gesichter. Kaum hörte ich das Geräusch von den Türen, die sich öffneten, stürmte ich raus aus dem Bus und füllte meine Lungen mit frischer Luft. Ein Blick auf den Straßenabschnitt vor dem Bus verriet mir, dass dort ein Schüler auf der Straße stand und der Bus deshalb so abrupt gestoppt hatte und seine Fahrgäste kurzerhand 20 Meter vor der Haltestelle hatte aussteigen lassen. Die anderen Jugendlichen verließen ebenfalls den Bus und kamen in meine Richtung. Logisch, sie wollte zur Schule, in deren Richtung ich mich auch begeben hatte. Doch sobald ich das bemerkte, suchte ich hektisch einen anderen Weg. Ich ging zu der großen Eiche, die knapp 20 Meter vor dem Schulgebäude aus dem Boden wuchs und lehnte mich mit dem Rücken an die Eiche. Früher hätte ich mich womöglich über diese Leute lustig gemacht, die Sicherheit bei Bäumen suchten. Aber seit geraumer Zeit waren diese Riesen der Natur unheimlich wichtig für mich. Sie symbolisierten Stabilität und Sicherheit. Die Schulglocke läutete und aus sicherer Entfernung beobachtete ich, wie sich die unzähligen Schüler durch den Eingang in das Gebäude drängten und gleichzeitig war ich froh, dass ich nicht in diesem Gedrängel steckte. Das schrille Klingeln ebbte ab und mittlerweile waren alle Menschen im Gebäude verschwunden. Es kehrte wieder Ruhe ein. Gerade hatte ich genug Energie getankt, um mich meiner nächsten Aufgabe zu stellen, da sprang plötzlich eine Person hinter dem Baum hervor. „Oi, sieh mal einer an. Bad Girl Lilly macht sich auch mal auf zum Unterricht?“ Ich kannte den Jungen, er ging in meine Klasse. Sein Name war Luke und nun ja, er sah gut aus. Er war gut gebräunt, seine schwarzen Haare lagen ihm verstreut auf der Stirn und seine unheimlich weißen Zähne strahlten mich durch sein Lächeln an. Fast schon schreckhaft drehte ich mich weg und steuerte zielsicher das Schulgebäude an. Auch wenn ich es nur ungern zugab, dieses selbstsichere Auftreten – es verunsicherte mich. Warum war er hier? Wollte er mich aufheitern? Wollte er sich über mich lustig machen? Aber von meinem Abgang ließ er sich natürlich nicht beeindrucken. Er folgte mir. „Jetzt renn‘ doch nicht gleich weg, ich meine es doch gar nicht böse!“ Klar, erzählen konnte er mir viel. Aber wäre das auch die Wahrheit? „Was treibst du hier? Ich meine.. du.. du kommst jeden Tag zu spät zum Unterricht, da wurde ich einfach neugierig.“ Super, reden wie ein Wasserfall konnte er auch noch. Ich beschleunigte meine Schritte und wollte einem Gespräch mit ihm entfliehen und so stieß ich die Tür zum Schulgebäude auf. Die Flure – jetzt waren sie leer. Auf manch einen mochte es beängstigend wirken, aber mich beruhigte es. Doch ich hatte keine wirkliche Zeit diesen Anblick zu genießen, schließlich hatte ich in Luke einen ziemlich hartnäckigen Verfolger gefunden. An meinem Ziel angekommen stieß ich die Tür zum Klassenzimmer auf und nuschelte ein schnelles „‘tschuldigung“ in Richtung des Lehrers, bei dem ich wohl gerade Unterricht hatte und huschte auf meinen Platz in der letzten Reihe am Fenster. Kurz nach mit betrat Luke den Raum aber ihm schien der Lehrer keine Beachtung zu schenken. Mister Redfields Blick ruhte auf mir, schien mich zu durchbohren. Ich war mir nicht sicher, was er wollte und so begann ich meine Schulsachen aus dem Rucksack zu packen und hoffte ihn so beruhigen zu können. Aber er schien mit jeder Sekunde, die verstrich, immer saurer zu werden. „Miss Dale, Sie besuchen diese Schule bereits seit einem halben Jahr. So langsam könnten Sie sich Ihre Starallüren abgewöhnen und wie jeder andere Schüler auch pünktlich zum Unterricht kommen. Wo wir schon davon reden, Ihr ärztliches Attest läuft diesen Monat ab. Sie sollten es also verlängern lassen. Sonst glaube ich kaum, dass Sie mit Ihren Leistungen das Schuljahr bestehen.“ Ich hatte bisher zwar keine einzige Schulnote bekommen. Aber wenn mein ärztliches Attest auslaufen würde, wäre genau das der Fall. Meine Leistungen würden benotet werden. Und diese Noten würden wohl schlecht ausfallen, sodass ich meinen Schnitt ins Bodenlose ziehen würde. Ich war noch lange nicht bereit dafür dem Unterricht richtig bei zu wohnen. Mein Arzt wusste das, deshalb schrieb er mich krank – zumindest teilweise. Für einen halben Tag. Er dachte ein wenig Abwechslung in Form von Schulbesuchen würde mir gut tun. Er hoffte aber, dass ich dieses Schuljahr hier wiederholen würde und in der Zeit hoffentlich zu meiner alten schulischen Form zurückfinden würde. „Danke für den Hinweis, Mister Redfield“, antwortete ich kleinlaut und dann widmete er sich lieber seinem Unterricht statt mir. Ich glaube er unterrichtete Geschichte und Mathematik. Aber sicher war ich mir nicht. Ein Beweis dafür, wie sehr ich neben mir stand.