Noch kein Name - Kapitel 4
Den Weg nach Hause legte ich erstaunlich schnell zurück. Das log wohl aber eher daran, dass ich mir unterwegs den Kopf über die letzten Ereignisse zerbrach. Was war es gewesen, was ich da gehört hatte? Diese Worte, die Dr. Tanner offenbar nicht ausgesprochen, die ich wiederum aber ganz deutlich gehört hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich mir das nicht eingebildet hatte. Aber scheinbar war es doch so? Drehte ich nun wirklich durch? Ich war noch völlig in Gedanken als ich die Haustür aufschloss. Die Schuhe streifte ich von meinen Füßen ab und ließ sie einfach im Flur liegen, räumte sie nicht einmal richtig in den Schuhschrank. Meine Füße trugen mich dann schnell weiter in den nächsten Raum, die Wohnküche. Ein unheimlich riesiger Raum, der Wohnzimmer und Küche miteinander vereinte. Plötzlich blieb ich in meinem Marsch stehen. Tante Judith war hier. Sie stand mit verschränkten Armen mitten im Raum. Was machte sie hier? Sonst war sie um diese Uhrzeit noch nie hier, sie kam immer recht spät nach Hause - hatte wohl viel mit ihrer Arbeit zu tun. "Tante Judith...Hi", begrüßte ich sie zögerlich. Irgendwie hatten ihre verschränkten Arme etwas an sich, dass mir verriet, dass ich besser nicht schnell auf mein Zimmer verschwinden sollte. "Was machst du denn hier?", fragte ich weiter. "Ach da bist du ja endlich", gab sie von sich und löste dann endlich ihre strenge Körperhaltung. "Ich wusste nicht, wann du heute nach Hause kommst, na ja genauer gesagt weiß ich das eigentlich an keinem Tag." Sie machte einige Schritte in Richtung der Küche und öffnete den Kühlschrank. "Aber wie hast du mich eben genannt? Tante Judith? Nenn mich bitte Judy! Das mit Tante das, ach das klingt so alt." Es war tatsächlich selten, dass ich mich mit ihr unterhielt oder anders herum. Eigentlich empfand ich genau das als positiven Nebeneffekt meines neuen Lebens, meines neuen Zuhauses. Nichts wurde hinterfragt, alles wurde hingenommen und das brachte mir einen ziemlich großen Freiraum ein, den ich wirklich sehr genoss. "Okay, Judy", antwortete ich lächelnd. "Wird sicher eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe. Übrigens nehme ich es dir nicht übel, dass du nicht weißt, wann ich nach Hause komme. Ich sag's dir ja schließlich auch nicht." Ich zuckte mit den Schultern und machte bereits den ersten Schritt in Richtung zur Treppe. Mein Zimmer befand sich nämlich eine Etage höher. "Halt! Stehen geblieben!" Verwundert drehte ich mich zu Tante Judith um und sah, dass das Eisfach im Kühlschrank geöffnet und Eis hervor geholt hatte. Aus dem Kühlschrank zog sie nun noch eine Flasche Sekt hervor. Fragend zog ich meine Augenbrauen in die Höhe und schon sollte ich auch eine Antwort für dieses Verhalten hier bekommen. "Ich finde wir sollten ruhig mal ein bisschen Zeit miteinander verbringen und ich dachte ein gemütlicher Abend auf der Couch vor dem Fernseher wäre da genau das Richtige, denkst du nicht auch?" Mir war nicht ganz klar, wieso sie sich plötzlich Mühe mit mir gab. Ich wollte das gar nicht und hatte ihr auch niemals irgendeinen Vorwurf in die Richtung gemacht. Deshalb machte sich in mir so langsam aber sicher der Verdacht breit, dass das nur ein Vorwand war, um im Laufe des Abends ein erstes Gesprächsthema anzuschneiden. Eigentlich schrie alles in mir das nette Angebot sofort abzulehnen, doch erschien mir das auch nicht richtig. Sie war schließlich meine Tante, die jüngere Schwester meiner Mutter. "Gern, ich freu mich", nahm ich ihr Angebot daher an. Aus einem Schrank in der Küche holte ich zwei Sektgläser und Löffel für das Eis. Tante Judith schaltete derweil den Fernseher an.
Alles in allem lief der Abend ziemlich gut. Die Serie, die wir uns ansahen war ziemlich spannend, aber auch witzig. Zwei miteinander befreundete Frauen versuchten gerade einen Mord aufzudecken und griffen dabei zu unkonventionellen Mitteln, indem sie sich beispielsweise an einen Polizisten ran machten. Wir konnten dabei viel lachen, doch verloren wir uns hin und wieder auch in Spekulationen darüber, wer wohl der Mörder sei. Schließlich war die Serie zu Ende und eine Vorschau auf die nächste Folge wurde gezeigt. Ich trank den letzten Schluck Sekt aus meinem Glas. Ich dachte mir, dass der nette Abend jetzt vorbei wäre und ich in mein Zimmer gehen könnte, doch da hatte ich mich getäuscht. "Warte, es gibt da noch etwas worüber ich mit dir reden wollte", begann meine Tante schließlich langsam aber sicher mit der Wahrheit heraus zu rücken. "Und zwar werde ich demnächst zu großen Teilen von Zuhause aus arbeiten. So hab ich ein bisschen mehr Zeit für dich." Sie ließ mir ein mildes Lächeln zukommen. Vermutlich war sie sich selbst nicht so sicher, was ich von der Idee halten sollte und ob sie selbst zu 100% dahinter stand. Ich wusste in dem Moment auch nicht wirklich, was ich sagen sollte, weshalb mein Mund einfach offen stand. Woher kam denn diese Idee plötzlich? Da musste doch mehr dahinter stecken, oder? "Ich... ich denke das bin ich meiner Schwester schuldig", schob Judy schließlich noch nach. Mein Blick lag noch immer auf ihr. Nein, es musste einen anderen Grund für diesen plötzlichen Sinneswandel geben. Nur welchen? Weiterhin sah ich sie an, bis schließlich wieder eine Stimme in meinem Kopf ertönte. Genauer gesagt war es die Stimme meiner Tante. "Ich denke ich sollte ihr das mit den Beschwerdebriefen von der Schule nicht sagen. Ich muss versuchen sie ohne diesen Druck wieder zu einer halbwegs normalen Schülerin zu machen. Wenn ich das nicht schaffe, wird mir vermutlich das Sorgerecht entzogen und dann wird sie woanders hingesteckt. Dann wird doch alles nur noch schlimmer, das will ich meiner Nichte doch nicht zumuten." Beschwerdebriefe von der Schule? Bestimmt steckte Mr. Redfield dahinter! Doch als mein anfänglicher Zorn über diese Information verschwunden war, wurde mir etwas ganz anderes klar. Der Mund von Tante Judy hatte sich nicht bewegt und sie hatte diese Worte auch definitiv nicht zu mir gesagt. Es klang viel eher so, als würde ihr genau das gerade durch ihre Gedanken schweben? Warum sollte ich ihre Gedanken hören können? Machte das irgendeinen Sinn? "Hey, äh nimm es mir nicht übel, aber es ist echt doof, wenn man so lange ohne eine Antwort der Reaktion bleibt", sie grinste mich an. "Oh.. ja.. hehe, sorry. Ich.. ähm.. ich finde das gut. Mum hätte sich sicher darüber gefreut", ich versuchte ihr aufmunternd zu zu lächeln. Doch dann stand ich schnell von der Couch auf. "Und ich hoffe du nimmst es mir nicht übel, dass ich jetzt schlafen gehen. Ich bin echt müde." Ohne eine Antwort abzuwarten machte ich mich auf den Weg zur Treppe. Ich hatte diese bereits zur Hälfte hinter mich gebracht, als ich ein "Schlaf gut" von meiner Tante vernahm. Ich drehte mich um. "Du auch", antwortete ich leise und dann verschwand ich in meinem Zimmer. Nein, müde war ich noch nicht und schlafen würde ich so schnell sicherlich auch nicht. Entweder drehte ich jetzt durch oder ich konnte wirklich die Gedanken von Menschen hören? Vielleicht wurde ich ja so langsam wirklich zum Freak.