Noch kein Name - Kapitel 3
Schwer atmend und völlig aus der Puste stieß ich die Tür auf. Mit einem lauten Knall pochte diese gegen die Wand und zitterte aufgrund des Aufpralls. Ich trat in den Raum hinein und schloss die Tür hinter mir, während mir langsam aber sicher wieder Atemluft in die Lungen strömte. "Ich hoffe ich bin nicht der Grund dafür, dass du so geladen bist", mit einem Lächeln im Gesicht kam Dr. Tanner um die Ecke. Er machte einen Spaß. "Mach ganz in Ruhe Lilly, meine neue Aushilfskraft ist auch nicht pünktlich, also konnte ich ihn noch nicht einarbeiten." Irritiert davon blickte ich ihn an. Sonst hatten wir unsere Sitzungen auch immer ohne eine Aushilfskraft für den Empfang abhalten können, warum heute nicht? Aber bevor ich dazu kam die Frage zu formulieren, die mir im Kopf umher schoss, flog die Tür hinter mir auf - ähnlich energisch wie durch mich gerade eben. Erschrocken machte ich einige Schritte nach vorne und wäre Dr. Tanner damit fast in die Arme gefallen. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Luke die Praxis betreten hatte? Ein weiteres Mal erschrak ich und riss meine Augen weit auf. "E-ees.. puuhh", er stemmte seine Hände in die Hüften und nahm sich einen Moment Zeit zum Luft holen. "Es tut mir leid, Dr. Tanner. Ich habe meinen Bus verpasst und bin deshalb so schnell ich konnte zu Fuß her gerannt." Danach erst sahen seine Umgebung die Gegend, sahen mich. Unsere Blicke trafen sich für einen Moment. Mir war die Situation wirklich verdammt unangenehm. Ich wusste nicht, was die anderen Schüler tatsächlich über meinen Zustand und meine Umstände wussten, aber nun wusste er auf jeden Fall, dass ich einen Psychologen besuchte. Und wenn er hier arbeiten würde... würde er heraus finden können wie oft ich hier war. Und warum ich hier war. Es bereitete mir ein unwohles Gefühl im Magen, wenn ein Mischüler, ein Mensch, der mich jeden Tag sah, so viel über diese Sache wusste. Am liebsten würde ich dieses Thema für immer unter den Tisch fallen lassen. Sonst hatte ich in der Schule nie an die Sitzungen mit Dr. Tanner denken müssen, doch jetzt würde ich sicher jedes Mal daran denken müssen, wenn ich Luke nur ansah. "Ihr kennt euch? Nun gut..", Dr. Tanner kratzte sich am Kopf, "Mister Walker nehmen Sie doch bitte Platz. Wenn ich meinen Termin beendet habe, werde ich Sie einweisen. Miss Dale, Sie können gerne schon einmal den Behandlungsraum betreten." Einerseits war ich dankbar dafür, dass er die Stille gebrochen hatte, andererseits auch nicht. Spätestens jetzt wusste Luke, dass ich hier Patientin war. Vielleicht hätte Dr. Tanner ihn wegen dieser Verspätung am ersten Arbeitstag gleich wieder gefeuert und so wäre er vielleicht nie hinter mein "Geheimnis" gekommen. Ich setzte mich auf den gemütlichen Therapiestuhl, nur drückte meine Körperhaltung wohl alles andere als Entspannung und Gemütlichkeit aus. Wie verkrampft saß ich dort nach vorne gebeugt. Meine Augen gierten darauf Dr. Tanner herein kommen zu sehen. Sobald er die Tür geschlossen hatte, sprudelten die Worte aus mir auch bereits wie ein Wasserfall heraus. "Hat er Einsicht in die Akten? In meine Akten? Hat er wenigstens eine Verschwiegenheitspflicht? Warum haben Sie ihn ausgesucht, wissen Sie denn gar nicht was für ein Schwätzer er ist?" Mein Blick lag auf ihn, flehte ihn fast schon um Antworten an. Er rückte seine Brille zurecht und vermutlich suchte er sich bereits möglichst passende und beruhigende Worte heraus, mit denen er mir gleich antworten würde. "Miss Dale", ich hasste es, wenn er das tat. Er sprach meinen Namen mit einer Seelenruhe aus, sodass ich mich kurz daraufhin selbst beruhigte. Nur wollte ich mich gerade nicht beruhigen, ich wollte Antworten! "Ich habe Luke ausgewählt, weil ich ihn als sehr loyalen Menschen einschätze und kennengelernt habe. Natürlich unterliegt er einer Verschwiegenheitspflicht. Diese wird er auch sehr ernst nehmen, dafür werde ich sorgen. Sie werden keinerlei Nachteile dadurch haben." Einen Moment ruhte sein Blick auf mich. Mein Körperhaltung entspannte sich und ich sank erleichtert in das Polster des Stuhls unter mir zurück. "Woher kennen Sie ihn?" - "Er.. er geht auf die gleiche Schule wie ich. Sogar in die gleiche Klasse." Auch Dr. Tanner lehnte sich nun etwas zurück und schlug seine Beine übereinander. "Ich verstehe. Haben Sie sich denn dort mal mit ihm unterhalten? Ist irgendetwas vorgefallen, etwas negatives?" Einen Moment musste ich über diese Frage nachdenken. Nein, eigentlich hatte er nur versucht ein Gespräch mit mir zu führen, doch ich war vor ihm geflüchtet. Vehement schüttelte ich also den Kopf. Plötzlich hatte ich das Gefühl ihn in Schutz nehmen zu müssen. Wer weiß schon, in was für ein schlechtes Licht ich ihn gerade gerückt hatte. Aber diese hektische Bewegung fiel meinem Psychologen natürlich auf. Manchmal hatte ich das Gefühl nichts blieb ihm verborgen. "Nun sehen Sie, das hätte mich auch stark gewundert. Ich halte wirklich viel von ihm. Vielleicht könnte er Ihnen sogar eine Hilfe dabei sein, Anschluss in der Schule zu finden." Natürlich wusste er, dass ich mit niemanden wirklich Kontakt hatte. Wir redeten meistens nur über solche oberflächlichen Dinge. Was für Situationen ich im Alltag erlebt hatte, wie ich mich dabei gefühlt habe, wie ich damit umging und wie ich auf gewisse Dinge in meinem Umfeld reagiere. Ich war mir gar nicht sicher, was er mit diesem Smalltalk bewirken wollte. Aber genau genommen ging es mir ohnehin nur darum Attest um Attest zu bekommen. In der Hinsicht war ich ziemlich feige geworden. "Ja.. genau! Apropos Schule... mein Attest läuft bald ab und ich bräuchte ein neues.." - "Sicher, zu den Formalitäten kommen wir später. In erster Linie haben wir diesen Termin hier, um heraus zu finden, wie es Ihnen geht und danach entscheide ich dann, ob das Attest verlängert wird oder nicht." Dieser Satz verletzte mich auf eine gewisse Art und Weise. Es klang beinahe so als hätte er nicht vor das Attest zu verlängern? Fassungslos blickte ich ihn an. Musste ich jetzt wirklich so tun als wäre ich schwer krank, nur damit ich dieses Schuljahr nicht wiederholen musste? Unbewusst stiegen mir die Tränen in die Augen. Vielleicht war ich ja wirklich krank, wenn mich so eine Kleinigkeit schon so aus den Socken hauen konnte. Dr. Tanner bemerkte diese Veränderung in meinem Gesicht und so begann er mir wieder Fragen zu stellen, die mich wohl von der Angst in meinem Kopf ablenken sollte. "Gibt es neue Informationen von Ihrem Vater?" - "Nein", antwortete ich kalt. "Vermissen Sie Ihre Mutter noch? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie an sie denken?" - "Natürlich vermisse ich sie. Wer würde seine eigene Mutter denn nicht vermissen? Wenn ich an sie denke, bin ich auf eine seltsame Art und Weise glücklich", ich stockte kurz und suchte nach den richtigen Worte, "Es war eine tolle Zeit mit ihr, die ich in Ehren tragen und niemals vergessen würde." Zu meinem eigenen Erstaunen hatte ich es geschafft so viel zu sprechen ohne dass meine Stimme zitterte. Hatte ich mit dem Tod meiner Mutter wirklich abgeschlossen? Doch prompt drängten sich mir die Gedanken auf, was mit meinem Vater wäre, wenn er aus dem Koma erwachen würde. Sicher wäre er am Boden zerstört, wenn er hörte, dass seine Frau nicht mehr an seiner Seite weilte. Das war wohl der einzige Grund, weshalb ich Angst davor hatte, dass mein Vater jemals wieder aufwachen würde. Gott, ich hatte es ja bisher nicht mal geschafft ihn im Krankenhaus zu besuchen, zu große Angst hatte ich vor dem Anblick, der sich mir da bieten könnte. Diese Angst hielt ich auch nicht weiter hinter dem Berg. Ich redete mit Dr. Tanner darüber und er versprach mir sogar, dass er entsprechende Situationen in den künftigen Sitzungen gedanklich mit mir durchspielen würde. Dankbar lächelte ich ihm zu, sah ihm in die Augen. Ich begann mich gedanklich zu fragen, was im Kopf eines Psychologen wohl eigentlich vorgehen musste. Man kümmerte sich den ganzen Tag über um das Leid anderer Personen, kam man dabei nicht selbst viel zu kurz? "Sie hat bisher noch nie etwas von ihren früheren Freunden erzählt. Wie kriege ich sie nur dazu?" Die Stimme von Dr. Tanner drang ganz klar an mein Ohr. Ich begann unweigerlich zu schmunzeln. "Wow seit wann stellen Sie sich denn so ungeschickt damit an, etwas aus mir heraus zu holen? Über all die anderen Themen habe ich bisher auch nicht gern geredet und dennoch haben Sie mich immer wieder zum reden gebracht." Völlig entgeistert blickte mich mein behandelnder Arzt nun an. Nanu.. was hatte er denn? "Haben Sie denn nicht bemerkt, dass Sie das eben laut gesagt haben? Sie wissen schon.. mit meinen Freunden?" Meine Stimme wurde selbst gerade ein wenig zögerlich, obwohl ich mir ziemlich sicher war, seine Stimme gehört zu haben. Sonst war doch schließlich niemand im Raum hier! "Ich habe gerade eben nichts gesagt. Aber... nun ich weiß nicht, ob das möglich ist. Aber vielleicht versucht Ihr Unterbewusstsein Ihnen das gerade einzureden? Möchten Sie vielleicht darüber reden? Sie wissen, ich habe immer ein offenes Ohr." Er hatte nichts gesagt? Und wenn er das so sagte, dann meinte er das auch so. Er war nicht der Mensch, der einfach mal so eine Lüge erfand. Geschockt sah ich ihn an. War ich vielleicht doch durch gedreht, dass ich mir schon solche Dinge einbildete? Ich legte eine Hand an meine Stirn und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. "Entschuldigen Sie.. ich habe Kopfschmerzen." Sein Blick glitt zur Uhr, ehe er aufstand. "Nun, sicher. Die Sitzung ist auch gleich vorbei. Machen wir für heute Schluss hier. Das Attest werde ich ihnen gleich verlängern." Unruhig lief ich in den Empfangsbereich. Luke würdigte ich nicht eines Blickes. Ich konnte ja nicht mal still stehen. Die ganze Zeit über lief ich auf und ab. Ich hatte mir das doch nicht eingebildet, ich hatte es ganz klar gehört! Aber er hat mich nicht direkt angesprochen.. er hat über mich gesprochen. Seine Gedanken? Hatte ich seine Gedanken hören können? Oder gaukelte mir mein Unterbewusstsein genau das vor? Was genau sollte ich denn glauben? Was stimmte und was nicht?! Dr. Tanner trat schließlich an mich heran, was ich aber auch nur dadurch bemerkt, dass er mir eine Hand auf die Schulter legte. Er hielt mir das Attest entgegen, welches ich sofort ergriff und bereits im nächsten Atemzug die Praxis verließ.