Noch kein Name - Kapitel 2
Ich wusste zwar nicht wie, aber irgendwie hatte ich die vier Stunden in der Schule hinter mich gebracht. Diese vier Stunden waren an mir vorbei gezogen wie eine schlechte Fernsehserie, die man nur nebenbei im Fernsehen laufen ließ, während man auf dem Sofa ein Nickerchen machte. Während die anderen Schüler nun also in die Cafeteria stürmten, begab ich mich zu den Bushaltestellen der Schule. Ich setzte mich auf eine Bank und wartete auf eine weitere grauenhafte Busfahrt. Aber diese hatte immerhin das Potenzial wesentlich angenehmer zu werden – der Bus wäre schließlich nicht so voll wie heute Morgen. Dennoch machte sich ein unschönes Gefühl in meiner Magengegend breit und so keimte der Gedanke in mir auf, einfach nicht in diesen Bus zu steigen. In meinem "Zuhause" würde ohnehin niemand auf mich warten. Es war ein großes und leeres Haus, niemand würde mich kontrollieren. So langsam gefiel mir der Gedanke immer mehr, mich ein wenig in der Stadt um zusehen. Genügend Zeit hatte ich auf jeden Fall noch, bis ich meinem Arzt einen Besuch abstatten musste.
Unterwegs stellte ich fest, dass das eine wirklich gute Idee von mir gewesen war. Der Wind schlug mir ins Gesicht und ich genoss es. Und das war verrückt, denn früher hätte ich mich darüber aufgeregt, dass der Wind mir meine Frisur zerstörte. Vielleicht war ich wirklich krank. Aber dieser Spaziergang in die Stadt; er sorgte dafür, dass ich mich seit langer Zeit wieder lebendig fühlen konnte. Ständig verkroch ich mich in einem Zimmer und mied das Leben, was für andere normal war. Nun lief ich wie ein normaler Mensch durch die Straßen von Baravia, besah mir die Schaufenster von Geschäften, stellte überrascht fest, was hier alles an unterschiedlichen Waren angeboten wurde, beobachtete wie ein Kind verzweifelt versuchte aus dem Buggy zu türmen, während die Mutter sich mit einer anderen Frau unterhielt. Nach einer gewissen Zeit meldete sich mein Magen mit einem Knurren bei mir. Um meinen aufkommenden Hunger zu stillen, kaufte ich mir in einem dieser klassischen Fastfood-Restaurants ein Sandwich, allerdings zum Mitnehmen. Ich lief in den nahe gelegenen Park, setzte mich auf eine leere Bank und begann dort mein Sandwich zu essen – um mich herum das fröhliche Zwitschern von Vögeln und das Plätschern eines Baches.
Es war keine Minute her, seit ich mein Sandwich aufgegessen hatte, da gab mein Handy einen Ton von sich – ich hatte eine Nachricht erhalten. Die Auswahl der Leute, die meine Nummer hatten und mir somit eine Nachricht senden konnten, war sehr begrenzt. Entsprechend hatte ich auch gleich eine gewisse Ahnung und öffnete sofort meinen Rucksack, um mein Handy hervor zu holen. Ein kurzer Blick auf das Display verriet mir, dass mein Verdacht sich bestätigt hatte und sogleich schlug mein Herz höher. Die Nachricht war von Craig, meinem Freund. Noch. Hoffentlich. Vielleicht. Na ja.. jedenfalls öffnete ich die Nachricht gleich. Es war ein Bild von einem Test. Er hatte die Note „1“ bekommen. Bei genauerer Betrachtung fiel mir auf, dass es sich vermutlich um Deutsch handelte. Das Bisschen, was ich vom Text lesen konnte, ließ nämlich auf eine Interpretation schließen. Darin war er immer schlecht gewesen, viele Stunden lang hatte ich das mit ihm geübt. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus – es war also doch nicht alles vergebens gewesen damals. Während mein Blick noch immer glücklich auf der Benotung lag, fiel mir aber etwas auf. Etwas, was meinen fröhlichen Blick sogleich trüben sollte. Ich erkannte die Handschriften einiger Mitschülerinnen, welche ihm mit Kuss-Smileys zu dieser Leistung gratulierten. Schnell schrieb ich ihm eine Antwort, dass ich mich sehr für ihn freute und ließ mein Handy wieder im Rucksack verschwinden. Es störte mich, dass ich nicht bei ihm sein konnte. Aber mich störte auch, dass es ihn so gar nicht zu stören schien. Immer wieder schickte er mir Bilder, auf denen ich deutlich erkennen konnte, dass er glücklich war und es ihm gut ging. Doch wie es mir ging, nun das schien ihn nicht zu interessieren. Als man mich damals aus dem Krankenhaus entlassen hatte, hatte er nur gefragt, wo ich denn wohnen würde. Kaum hatten die Ärzte ihm erklärt, dass meine Tante mich bei sich aufnehmen würde, war das Thema für ihn wie abgehakt. Er hatte sich ziemlich verändert. Es wunderte mich sogar, dass er die Beziehung noch nicht beendet hatte. Wir lebten nun schon fast ein Jahr fünf Stunden Autofahrt voneinander entfernt. Seit dem hatten wir uns nicht ein einziges Mal gesehen. Wir hatten telefoniert, nicht lange und nicht oft, nur über belanglose Dinge gesprochen. Aber noch immer setzte ich Hoffnungen in ihn. Ich hatte Hoffnungen, dass irgendwann alles so wie früher werden konnte und wir glücklich wären. Und wieder hatte ich mich in meinen Gedanken verloren. Erst als ich die Kirchenglocken zur vollen Stunde läuten hörte, schreckte ich auf. Mein Arzttermin!
anonyma007 am 11. November 18
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